Bundesrat will Zensur ohne Gerichtsbeschluss

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Eine Behörde soll Inhalte von Webseiten sperren können, um Urheber zu schützen. Die Informationsfreiheit hat das Nachsehen.

Bundesrat will Zensur ohne Gerichtserlaubnis – zum Schutz von geltend gemachten Urheberrechten

Bundesrat will Zensur ohne Gerichtserlaubnis – zum Schutz von geltend gemachten Urheberrechten (pd)

Am 1. Dezember 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR entschieden, dass die Sperrung von Youtube durch ein türkisches Gericht gegen die Freiheit der Meinungsäusserung (Artikel 10 der Menschenrechtskonvention) verstossen hat.

Drei türkische Rechtswissenschaftler haben dieses Urteil erwirkt. Das erstinstanzliche Kriminalgericht hatte eine Sperre von Youtube angeordnet, weil auf dem Videoportal zehn Videos abrufbar waren, die angeblich das Andenken des Staatsgründers Atatürk beleidigt hatten.

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Die Kläger verlangten gestützt auf die Freiheit zum Empfang von Informationen und Ideen die Aufhebung dieses Urteils. Darüber argumentierten sie, die Sperrung von Youtube wirke sich auch auf ihre akademischen Aktivitäten aus. Sodann bestehe ein öffentliches Interesse am Zugang zum Videoportal.

Die erste Instanz hat dieses Begehren abgewiesen, mit der Begründung, dass die Sperre gestützt auf das Gesetz erfolgt sei. Überdies seien die Beschwerdeführer nicht zur Beschwerde legitimiert. Das Kriminalgericht von Ankara bestätigte diese Entscheidung.

Verletzung der Meinungsfreiheit

Insgesamt war die Webseite Youtube vom 5. Mai 2008 bis 30. Oktober 2010 gesperrt. Die Beschwerdeführer machten neben einer Verletzung ihres Rechts auf Freiheit zum Empfang von Informationen und Ideen auch eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren geltend.

Der Gerichtshof hält in seinem Urteil zunächst fest, dass die Sperre von Youtube nicht direkt gegen die Beschwerdeführer gerichtet war und die türkischen Gerichte ihnen deshalb keine Beschwerdelegitimation zugesprochen haben. Er untersuchte deshalb zunächst, ob die Beschwerdeführer «Opfer» im Sinne der EMRK sind. In diesem Zusammenhang hält er fest, die drei Rechtswissenschaftler setzten das Videoportal aktiv für professionelle Zwecke ein, insbesondere um auf Videos für ihre akademischen Arbeiten zugreifen zu können. Über Youtube würden Informationen zu einem bestimmten Gebiet zugänglich gemacht, insbesondere zu politischen und sozialen Themen. Somit handle es sich um eine wichtige Kommunikationsplattform, und die Sperre verunmögliche den Zugang zu spezifischen Informationen, die anderweitig nicht erhältlich waren. Darüber hinaus ermögliche die Plattform neue Formen von «Bürger-Journalismus», was eine wichtige Ergänzung zu den Angeboten der traditionellen Medien darstelle.

Dementsprechend erkannte der Gerichtshof, dass es sich bei Youtube um ein wichtiges Arbeitsinstrument für die Beschwerdeführer handle. Die Sperrung des Portals habe sie somit besonders betroffen, auch wenn sie nicht direkt gegen sie eingesetzt worden war.

Keine Sperrung ganzer Websites

Weiter verweist der Gerichtshof auf ein früher ergangenes Urteil (Ahmet Yildirim gegen die Türkei), in dem er festgehalten hat, dass das betreffende Gesetz nicht die Sperre einer ganzen Internetseite gestützt auf einen einzigen Inhalt erlaube. Das Gesetz erlaube nur die Sperrung des Zugangs zu einer spezifischen Publikation, sofern diese eine Straftat vermuten lasse. Im vorliegenden Fall existierte somit keine gesetzliche Grundlage für die Sperrung des Zugangs zum gesamten Videoportal. Die Blockade hatte somit bereits wegen fehlender gesetzlicher Grundlage gegen die Anforderungen der Konvention verstossen.

Seitensperren auch in der Schweiz

Welches ist die Relevanz dieses Urteils für die Schweiz? Der Bundesrat hat zehn Tage nach dem Urteil des Gerichtshofs unter dem irreführenden Titel «Urheberrecht modernisieren» seine Vorschläge für die Revision des Urheberrechts in die Vernehmlassung geschickt. Diese sind massgeblich auf Druck der US-Unterhaltungsindustrie entstanden. Diese beeinflusste schon die Vorarbeiten der Arbeitsgruppe Urheberrecht (AGUR12) erheblich und noch mehr bei angeblich einem sogenannten «runden Tisch» mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft.

Der Schlussbericht der AGUR wurde von vielen Seiten stark kritisiert; trotzdem basieren die nun präsentierten Revisionsvorschläge zu einem grossen Teil auf den Schlussfolgerungen jener Arbeitsgruppe. So sollen unter anderem Schweizer Hosting Provider bei Urheberrechtsverletzungen über ihre Server die betreffenden Inhalte rasch entfernen. «Grosse, kommerzielle Piratenseiten werden allerdings oft bei Hosting Providern beherbergt, deren Sitz oder Standort sich im Ausland befindet oder deren Standort verschleiert ist. In diesen Fällen sollen die Schweizer Access Provider auf Anweisung der Behörden den Zugang sperren.» (Medienmitteilung des Bundesrates vom 11. Dezember 2015).

Sperrung ohne Gerichtsverfahren

Konkret sieht der entsprechende Artikel im Vorentwurf vor, dass Rechtsinhaber vom Institut für Geistiges Eigentum verlangen können, «dass es die Anbieterinnen von Fernmeldediensten mit Sitz in der Schweiz verpflichtet, den Zugang zu Angeboten von Werken und anderen Schutzobjekten zu sperren.» Entscheiden soll also nicht ein Gericht, sondern eine Behörde, die bereits durch den Verein «Stop Privacy», dessen Geschäftsstelle sie führt, bewiesen hat, wie einseitig ihre Sicht auf die Thematik ist. So heisst es etwa auf der Startseite dieses Vereins: «Klick dich in der Bildergalerie durch die schmutzige Welt der Fälscher und Piraten und erfahre, was alles gefälscht, kopiert und illegal angeboten wird». Und weiter: «Auch wenn die Medikamente aus dem Internet noch so harmlos aussehen und im besten Fall wirkungslos sind – sie zu schlucken ist wie russisches Roulette spielen.» Dieselbe Behörde, welche diese polemischen Texte verantwortet, soll nun also auf Antrag der gebeutelten Unterhaltungsindustrie entscheiden, ob und welche Webseiten gesperrt werden sollen.

Sperrungen leicht zu umgehen

Unabhängig vom offensichtlichen Konflikt mit der Informations- und Meinungsäusserungsfreiheit bleibt anzumerken, dass die vorgeschlagenen Webseite-Sperren für versierte Internetnutzer relativ leicht zu umgehen sind. Realisiert werden sie über sogenannte DNS-Sperren. DNS steht für Domain Name System und ist – vereinfacht ausgedrückt – ein System zur Zuordnung von Domainnamen zu IP-Adressen. Wenn ein Internetnutzer also zum Beispiel www.sgemko.ch eingibt, muss seine Software herausfinden, welche IP-Adresse zu dieser Seite gehört, und diese Information erhält sie von einem DNS-Server. Die Türkei oder das IGE können nun die Provider als Betreiber der DNS-Server dazu verpflichten, die Domain auf eine andere IP-Adresse umzuleiten, wo der Internetnutzer dann z.B. einen polemischen Text im Stil der oben zitierten Auszüge antrifft. Jeder, der dieses simple System kennt, kann jedoch auf andere DNS-Server ausweichen oder direkt die IP-Adresse des gewünschten Angebots anwählen. Die Massnahme trifft also nur diejenigen, die sich technisch wenig auskennen, während die Internetpiraten in der Regel kein Problem damit haben dürften, diese simplen DNS-Sperren zu umgehen.

(Ludwig A. Minelli)

Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift «Mensch und Recht»

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Gast-Autor

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