Smart Grids sollen das Schweizer Stromnetz in Zukunft stabilisieren anstatt Atomkraftwerke. Der Strom-Branchenverband VSE attackiert an der jährlichen Fachtagung der EKZ die Energiewende. Zu spät? Migros startet ein Smart-Grid-Pilotprojekt, zusammen mit IBM, BKW und Swissgrid – mitfinanziert vom Bund. Es zeigt das Schweizer Potential des Smart Grid.
Flexibilität im Stromnetz ist eine wichtige Eigenschaft zur Stabilität der Netz-Infrastruktur. Diese Stabilität garantiert den ungestörten Stromkonsum. Die Energiewende zwingt nun Strom-Netzbetreiber zu mehr Flexibilität, weil Energie aus Solarzellen oder von Windrädern unregelmässig fliesst – je nach dem ob die Sonne scheint oder der Wind blässt. Der Bundesrat hat erst kürzlich, an seiner Sitzung vom 23. Mai, die Eckpunkte für einen Aus- und Umbau der Stromnetze festgelegt.
Das Bundesamt für Energie unterstützt finanziell das Pilotprojekt der Migros. Der Stromkonsum der Kühlhäuser des Migros-Verteilbetriebs Neuendorf (SO) soll flexibel gesteuert werden mit dem IT-System «Flexlast», das IBM im Rahmen des Projekts entwickelt. Partner sind das Berner Energieunternehmen BKW und das nationale Netzbetriebsunternehmen Swissgrid.
Gegner erhitzen Diskussion um Energiewende
Stefan Muster, Bereichsleiter Wirtschaft und Regulierung des Verband der Stromproduzenten (VSE), sprach sich als einziger Referent Mitte September an der EKZ-Fachtagung «Energiestrategie 2050 – Klar zur Wende?» eindeutig gegen die Energiewende aus – dafür aber umso hemmungsloser. Muster präsentierte eine einseitige VSE-Studie namens «Wege in die neue Stromzukunft». Die drei vorgestellten VSE-Horrorszenarien sollen Strompreiserhöhungen von bis 75% belegen bei einem Ausbau von Photovoltaik und Windkraft im nationalen Energiemix auf 20 Prozent. Ausserdem könne kein VSE-Mitgliedsunternehmen soviel Geld wie nötig investieren, behauptet Muster. Es müssten Subventionen fliessen und somit gefährde der Bundesrat mit dem Atomausstieg die Stromversorgung der Schweiz. Muster drohte zum hörbaren Entsetzen eines EKZ-Verwaltungsrats gar mit «nordkoreanischen Verhältnissen».
Konstantinos Boulouchos, Professor am Institut für Energietechnik der ETH Zürich, lieferte an der Tagung eine wissenschaftliche Prognose. Sie basierend auf der ETH-Studie «Energiezukunft Schweiz» . Laut seiner Aussage, können die Netze heute schon mit intelligenter Steuerung und geringen Anpasungen bis 2030 den geplanten Ausbau von Photovoltaik und Windkraft auf 10 Prozent am Energiemix vertragen.
Elektrizitätswerke wollen Smart Grid
Einige VSE-Mitgliedsunternehmen sehen die Zukunft optimistischer als der VSE in seiner Studie darzustellen versucht und investieren in die Entwicklung. In vielen anderen Schweizer Städten von Genf bis St. Gallen sind erneuerbare Energien und neue Projekte für Smart Grids längst keine Fremdwörter mehr. Landesweit entstehen oder laufen Projekte zur Digitalisierung des Strommarktes, um die Zukunftsvisionen in der Realität umzusetzen. EKZ installiert beispielsweise Smart Meters in grosser Zahl bei ihren Kunden in Dietikon und experimentiert gleichenorts in Zusammenarbeit mit ABB an Batteriespeichern. IBM Research und die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) testen seit einem Jahr, wie in einem Smart Grid der Ladevorgang von Elektroautos per Mobilfunk gesteuert werden kann.
BKW arbeitet seit 2010 zusammen mit IBM, Swisscom und der Schweizerischen Post in Ittigen (BE), um mit Hilfe der Gemeinde im ganzen Dorf die Zukunftsvision eines Smart Grid und die Nutzung von Elektrofahrzeugen darzustellen. Darauf aufbauend setzt nun das neue Pilotprojekt mit dem Bundesamt für Energie (BFE) an. In Ittigen werden bereits die Warmwasser-Boiler vom Energieversorger BKW individuell gesteuert. Je nach Bedarf von Warmwasser eines Haushalts und je Stromnetzauslastung, wird das Warmwasser-Boiler beheizt. «Die bisher entwickelte Software für flexibles Lastmanagement in Stromnetzen bildet die Basis für Flexlast», sagte Dykeman gegenüber Greenbyte.ch.
Flexibles Lastmanagement steuert Stromnetz
IBM Research startete mit der Software-Entwicklung für flexibles Lastmanagement in Stromnetzen 2009 mit dem Projekt Edison in Dänemark. Danach folgten die Projekte in Zürich und Ittigen. Flexibles Lastmanagement von Industrien ist nochmals eine Stufe grösser. «In der jüngsten Vergangenheit hat IBM aufgezeigt, dass Elektrofahrzeuge, elektronische Geräte und auch Gebäude als Puffer für die schwankende Versorgung durch erneuerbare Energien eingesetzt werden können und das Stromnetz auf diese Weise stabiler wird», sagte Dieter Gantenbein, Leiter Smart Grid bei IBM Research Zürich. Es gehe nun um das Testen auf sicherem Grund. IBM nutzt die Gelegenheit, um den Wert der eigenen Smarter-Planet-Strategie in konkretem Industrie-Projekt zu beweisen und sich als innovativer Zulieferer für Smart Grids zu positionieren. Andere weltweit bekannte Zulieferer sind beispielsweise ABB, Siemens sowie Landis+Gyr mit dem Mutterhaus Toshiba.
«Seit Juni ist das Projekt gestartet und dauert bis Ende 2013», sagte Doug Dykeman, Manager Systems Management von IBM Research Zurich. Er hat Greenbyte.ch und weiteren Pressevertretern aus ganz Europa in Rüschlikon die neue Herausforderung an die Software erklärt. Im Rahmen des Pilotprojektes entwickeln IBM-Wissenschafter mit dem Flexlast-System die Software und die Algorithmen an der Schnittstelle zwischen Stromnetzbetreiber und Verbraucher. Das System nutzt die Daten über Temperatur- und Stromverbrauch der Migros-Kühlhäuser und verarbeitet Stromnetzdaten von BKW und Swissgrid. Dazu kommen aktuelle sowie vorhergesagte Wetterdaten zu Lufttemperatur, Sonneneinstrahlung und Windstärke. «Diese Daten fliessen in ein Modell, um den Energiebedarf des Kühlhauses vorauszusagen», so Dykeman. Die Prognose ist die Basis für die den optimierten Tagesplan der Kühlsteuerung.
Die historischen Daten werden für den Bau eines Modells genutzt, die Echtzeit-Daten werden für den Status des Systems verwertet und ein die Wetter-Voraussagen fliessen in die Berechnung des Energiekonsums. Detaillierte Daten bekommt das System folgende: Alle 15 Minuten werden die Logistik-Daten aktualisiert. Dazu gehören die Volumen der angelieferten Waren in Kubikmeter, basierend auf der Anzahl der Paletten. Weiter das Gewicht der Waren in Tonnen die um ein Grad gekühlt werden (eine Mischrechnung, um den Energieaufwand abzuleiten). Alle 10 Sekunden meldet das Kontrollsystem die Daten jeder Halle, des Kühlsystems und der Kompressoren. Die Wetterdaten sind Aussentemperatur, Luftfeuchigkeit, Windgeschwindigkeit, Niederschlag und Sonnenschein.
Photovoltaik und Wind fehlen dem Projekt
Die fertige Software schafft heute die Voraussetzungen für später, wenn bei Sonnenschein oder kräftigem Wind die Klimaanlagen auf Hochtouren laufen sollen, während sie runtergefahren oder vollständig abgeschaltet würden, wenn keine erneuerbaren Energien verfügbar wären. Derzeit sind aber noch so gut wie keine solche erneuerbare Energien im Netz der BKW verfügbar. Auch, weil das Kernkraftwerk Mühleberg, das im Besitz von BKW ist, immer noch die Netze mit Strom überfüllt, wenn am Nachmittag der Stromkonsum im Netz sinkt und die Sonneneinstrahlung wirkt. Dies erschwert einen gewinnbringenden Betrieb von Photovoltaik, während ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung der Gefahr eines nuklearen Unfalls ausgesetzt ist und mit dem ungelösten Deponieproblem für den radioaktiven Abfall leben muss. Das Bundesverwaltungsgericht hob die ursprüngliche Frist zum Betriebsende von Mühlberg bis Ende 2012 auf, verfügte aber gleichzeitig wegen der offenen Fragen zur Sicherheit eine neue Befristung bis 28. Juni 2013.
«Wir möchten die Smart-Grid-Technologie vorstellen und somit veranschaulichen, wie industrielle Energieverbraucher ihre Prozesse umstrukturieren können, um eine optimale Einbindung in Stromversorgungssysteme zu gewährleisten», sagte Wolf-Christian Rumsch, Project Manager von BKW. Das Pilotprojekt soll zum energiepolitischen Ziel der Schweiz beitragen, bis 2030 den Anteil erneuerbarer Energien, vor allem aus Photovoltaik, um 5400 Gigawattstunden zu erhöhen – dies entspricht 10 Prozent des landesweiten Stromverbrauchs, respektive dem Kernkraftwerk Beznau (5800 GWh), dessen Leistung liegt zwischen Mühleberg (3400 GWh) und Gösgen (8000 GWh), resp. Leibstadt (8’800 GWh). 2011 stammten etwa 56 Prozent der gesamten Stromproduktion der Schweiz aus erneuerbaren Quellen: zu 96 Prozent aus Wasserkraft.
Migros unterstützt Energiewende
Am World Retail Congress 2011 wurde Migros mit dem Energy Globe Award ausgezeichnet und das Unternehmen schreitet weiter voran mit der nachhaltigen Firmenstrategie. Mit 1100 Gigawattstunden pro Jahr ist Migros einer der grössten privaten Konsumenten von Strom in der Schweiz. Laut BFE nutzt Migros rund 1,7 Prozent des Schweizer Stromverbrauchs. Die Tochtergesellschaft Migros-Verteilbetrieb Neuendorf (MVN) verbraucht allein im grössten von drei Tiefkühlhäuser 500’000 Kilowattstunden Strom pro Monat. Das entspricht 6 Gigawattstunden pro Jahr. «Wie unterstützen die Energiestrategie 2050 des Bundesrates. Dieses Engagement ist ein weiterer Beitrag zur Energiewende», Roland Stadler, Fachbereichsleiter Energieeinkauf von Migros, gegenüber Greenbyte.ch.
«Wir waren erstaunt, wie wenig die Aussentemparatur die Kühlleistung beeinflusst und wie lange das Gebäude ohne zusätzliche Kühlenergie auskommt. Das Gebäude ist hervorragend isoliert und die Türen öffen sich nur so kurz wie unbedingt nötig für die Zulieferfahrzeuge. Die Kühlenergie wir nur für das Herunterkühlen der angelieferten Waren genutzt. Somit kann das Gebäude im Extremfall bis zu 12 Stunden ohne Strom sein», sagte Dykeman. „Eine so lange Zeit würde in den folgenden Stunden die Kühlmaschinen auf Vollast laufen lassen. Das würde uns die angestrebte Flexibilität komplett nehmen. Nur die Flexibilität bringt uns derzeit Vorteile, bevor Grossangebote für Sonne und Wind verfügbar sind», sagte Stadler gegenüber Greenbyte.ch. Swissgrid nehme flexible Grossverbraucher, wie Migros dies bei Vollausbau des Flexlast-Systems werden kann, für deren Flexibilität unter Vertrag, um diese bei drohenden Über- oder Unterspannungen im Netz zum Ausgleich zu nutzen. Sie dienen als eine Art Puffer, wenn zu viel oder zu wenig Strom im Netz ist. Damit bleibt das Netz stabil und Grossverbraucher erhalten einen Bonus, der einen Teil ihres Strompreis verbilligt.
Hubstapler liefern kurzfristige Energie
Gegen Ende 2013 soll das Projekt beendet sein. Gemäss Stadler von Migros sieht er bei einem Erfolg grosse Chancen, das System auf weitere geeignete Migros-Bereiche auszuweiten. Für die IBM-Verantwortlichen ist die Reaktionszeit des Systems von einer Minute die Herausforderung. in einer späteren Phase werden ach Elektrofahrzeuge wie Hubstapler in das System integriert, indem deren Batterien als Zwischenspeicher integriert werden. Die Batterien würden sich als kurzfristige, netzunabhängige Stromlieferanten eignen. BKW verfasst zudem eine Begleitstudie zum Projekt. Das Bundesamt für Energie wiederum verspricht eine Beispiel für weitere Smart-Grid-Projekte auf dem langen Weg zum Ausstieg aus der Atomkraft.
(Marco Rohner)
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Die zentrale Organisierung des Schweizer Netzwerkes ist sicher keine schlechte Lösung. Gerade Swissgrid wird versuchen Konzerne zum Stromsparen zu bewegen, und hat ja konkrete Pläne entwickelt um Kühlhäuser zwischendurch vom Netz zu nehmen um Strom zu sparen ohne dass die Temperaturen in Kühlhäusern sich ändern.